Spielweisen mit Apps in YouTube-Performances

Matthias Krebs | 6. Juni 2022

In diesem Jahr habe ich mich mit einem Vortragsbeitrag bei der renommierten Forschungskonferenz des AMPF (Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung) beworben und eine Zusage erhalten. In meinem Vortrag geht um eine Studie zur Frage, welche Formen und Qualitäten von Spielbewegungen sich in YouTube-Performances finden lassen, in denen Apps als Musikinstrumente verwendet werden. Ich freue mich sehr die Ergebnisse einer meiner Studien im Fachkontext diskutieren zu können.

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Mittlerweile ist zum damaligen Vortrag ein Beitrag entstanden, der im Sammelband „44. Jahresband des Arbeitskreises Musikpädagogische Forschung“ erschienen ist (Krebs, 2023). Hier findet sich dazu ein begleitender Blogbeitrag, in dem neben einem knappen Überblick zu den Studienergebnissen auch eine Anzahl an Fallbeispielen integriert sind: –> Körperlichkeit in digitalen Musikpraktiken mit Apps.

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Beitragstitel: Spielweisen mit Apps in YouTube-Performances

Eine empirische Untersuchung digitaler Musikpraktiken aus musikpädagogischer Perspektive. // Matthias Krebs

Die explorative Studie analysiert Spielbewegungen fokussiert auf die taktile Interaktion von Musizierenden mit digitalen Musiktechnologien in YouTube-Performances. Im Zentrum des Forschungsinteresses steht das Instrumentale, die Verbindung von Spielenden mit einer (digitalen) Klangerzeugung vermittelt über ein technisches Interface, bei der im Unterschied zu physikalischen Verfahren der Klang nicht durch die direkte Anregung eines Resonators durch Körperbewegung hervorgerufen wird. Untersuchungsgegenstand sind vor einem praxistheoretischen Hintergrund die spezifischen Formen der Interaktion mit von App-Entwickler*innen vorgegebenen Steuerelementen, die auf dem Touchscreen von Smartphones und Tablets in Musikapps angeboten werden. Dazu wurde eine Bandbreite an YouTube-Videoperformances analysiert, in denen verschiedene Musiker*innen unter Verwendung diverser Apps Musik live aufführen – was als situations- und körperbezogene Musizierpraktiken beobachtet werden kann (Krebs 2019). Eine zentrale forschungsleitende Frage ist, welche Formen an Spielbewegungen lassen sich beobachten und welche Rolle haben die von den Musizierenden ausgewählten Technologien für die Qualität der Spielbewegungen in der Musikausübung. Gefragt wird also nach konkreten Handlungsstrategien in der jeweiligen Musiziersituation sowie nach dem rahmenden Wissen bezüglich geltender Genre-Konventionen, die Musizierenden in ihrem Tun Handlungsschemata bereitstellen.

Zur Illustration ein exemplarisches Video aus dem Korpus:

Bislang sind Spielbewegungen eher aus physiologischer (Wagner 2005) sowie musikpsychologischer Perspektive (Leman 2016) etwa bei Klavierimprovisation untersucht worden (Eerola et al. 2018). Die neuen ästhetischen Praktiken mit digitalen Technologien zu musizieren, sind bislang nur in Ansätzen erforscht, beispielsweise bei DJ-Club-Performances (Förstel et al. 2015). Relevanz erhält die Forschung auch in Hinblick auf die steigende Bedeutung von Bildungsangeboten, in denen Musikapps für das (gemeinsame) Musizieren verwendet (Steiner 2016) werden. Die Form der Spielbewegungen – als situative Formen der körperlichen Verbindung zwischen Spielenden und Instrumenten – stellt diesbezüglich nicht zuletzt eine zentrale Kategorie für die Wahrnehmung und das Lernen von Musik dar (Spychiger 2008; Hellberg 2019, Rora 2017).

Die im Vortrag vorgestellte qualitativ-empirische, ethnomethodologisch orientierte Studie nimmt Anschluss an den Diskurs zur (empirischen) Forschung soziomaterieller Dimensionen sozialer Praktiken (Godau & Haenisch 2019; Hörning 2017, Duve 2021). Das Forschungsvorgehen orientiert sich am Forschungsstil der Grounded-Theory-Methodologie (Mey & Mruck 2011; Breuer 2010) und zeichnet sich durch Offenheit gegenüber dem Datenmaterial unter Rückgriff auf sensibilisierende Konzepte, das ständige Vergleichen und eine theoretische Samplingstrategie aus. Zur Analyse der nichtverbalen, multimodalen Strukturen im Musizierhandeln – fokussiert auf die Interface-Interaktion in Form performativer Prozesse – wurde forschungsmethodisch ein videographischer Ansatz gewählt. Der Datenkorpus besteht in seinem offenen Feldzugang aus einer Auswahl an YouTube-Videos diverser Genres und musikpraktischen Expertisen (Robson & McCartan 2015), in denen mindestens die Hände der Spielenden zu sehen sind. Vorbereitend wurde das Videomaterial nach der Videointeraktionsanalyse (Tuma et al. 2013) aufgeschlossen und interpretiert und daraufhin mehrfach kodiert: 15 Videos wurden nach der Sichtung von über 200 Videos näher untersucht und dichte, sequenzielle Beschreibungen erstellt, um die simultanen Mikroprozesse zu erfassen.

Die Ergebnisse der empirischen Studie lassen sich zur „Spielweise“ als übergreifende Analysekategorie für das Musizieren mit Musikapps im Performance-Kontext verdichten. Abhängig von den von Musizierenden situativ gewählten Steuerelemente lassen sich drei Grundformen herausarbeiten, die in unterschiedlichen Graden realisiert werden. Sie können als Heuristiken für die vertiefende Forschung sowie zur pädagogischen Beobachtung des Musizierens mit Apps genutzt werden und können die Reflexion über Ausdruckspotenziale des (eigenen) Spiels und damit zusammenhängender Lernprozesse leiten.

 

Kurzvita

Matthias Krebs arbeitet als Universitäts-Assistent an der Universität Mozarteum Salzburg und leitet in Berlin die Forschungsstelle Appmusik (Institut für digitale Musiktechnologien in Forschung und Praxis). Darüber hinaus ist er Gründer des Kulturangebots app2music e. V., entwickelt Konzepte für Institutionen der Kulturellen Bildung (z.B. Konzerthäuser, Museen) und ist als Lehrbeauftragter an mehreren deutschen Musikhochschulen tätig. Für die Mitglieds-Musikschulen des LVdM Schleswig-Holstein hat Matthias Krebs zuletzt das überregionale Digitalisierungsvorhaben „MSdigital.SH“ konzipiert und durchgeführt. 2022 begleitet er konzeptionell die Digitalisierungsoffensive des LVdM NRW mit über 8000 Lehrkräften und entwickelte das Rahmenkonzept für das Programm „Musikschule.digital.NRW“.

 

Literatur

Breuer, F. (2010). Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. Springer VS.

Duve, J. (2021). Prozesse des Verbindens und Distanzierens in digitalen Gruppenkompositionen. Eine Videostudie zur Rolle der Dinge beim Musik-Erfinden mit Loops und Samples. In V. Krupp, A. Niessen, V. Weidner (Hrsg.), Wege und Perspektiven in der musikpädagogischen Forschung (S. 181-198), Waxmann.

Eerola, T. / Jakubowski, K. / Moran, N. / Keller, P. & Clayton, M. (2018). Shared periodic performer movements coordinate interactions in duo improvisations. R. Soc. open sci. 5: 171520. http://dx.doi.org/10.1098/rsos.171520.

Förstel, A. / Hardjoworogo, S.-I. & Egermann, H. (2015). The Actions that Make a Musical Instrument. Exploring Club-DJing as an Instrumental Practice. Proc. of the 11th International Symposium on CMMR.

Godau, M. & Haenisch, M. (2019). How Popular Musicians Learn in the Postdigital Age. Ergebnisse einer Studie zur Soziomaterialität des Songwritings von Bands in informellen Kontexten. In V. Weidner & C. Rolle (Hrsg.), Praxen und Diskurse aus Sicht musikpädagogischer Forschung (S. 51-68). Waxmann.

Hellberg, B. (2019). Koordinationsprozesse beim Musizieren im Instrumentalen Gruppenunterricht. Waxmann.

Hörning, K. (2017). Wissen in digitalen Zeiten. In H. Allert, M. Asmussen & C. Richter (Hrsg.), Pädagogik. Digitalität und Selbst: Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse (S. 69-86). transcipt.

Krebs, M. (2019). Wenn die App zum Musizierpartner wird. Eine Annäherung an die Besonderheiten technologievermittelten Musizierens am Beispiel der Musikapp PlayGround. In H. Gembris, J. Menze, A. Heye (Hrsg.), Jugend musiziert – musikkulturelle Vielfalt im Diskurs. Schriften des Instituts für Begabungsforschung in der Musik (IBFM) Bd. 12 (S. 235-282). Lit.

Leman, M. (2016). The Expressive Moment. How Interaction (with Music) Shapes Human Empowerment. MIT Press.

Mey, G. & Mruck, K. (Hrsg.) (2011). Grounded Theory Reader. Springer VS.

Rora, C. (2017): Musik als Praxis aus dem Blickwinkel einer Phänomenologie der Partizipation. In A. Cvetko & C. Rolle (Hrsg.), Musikpädagogik und Kulturwissenschaft (S. 165-179). Waxmann.

Robson, C. & McCartan, K. (2002). Real World Research. John Wiley & Sons.

Spychiger, M. (2008): Musiklernen als Ko-Konstruktion? Überlegungen zum Verhältnis individueller und sozialer Dimensionen musikbezogener Erfahrungen als Lernprozesse. Diskussion Musikpädagogik (40), 4-12.

Steiner, J. (2016). Digital MUSICIANship. Digitales Klassenmusizieren. Helbling.

Tuma, R. / Schnettler, B. & Knoblauch, H. (2013). Videographie. Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Springer VS.

Wagner, C. (2005). Hand und Instrument. Musikphysiologische Grundlagen – Praktische Konsequenzen. Breitkopf & Härtel.


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