Körperlichkeit in digitalen Musikpraktiken mit Apps

Matthias Krebs | 18. April 2023

Der Beitrag stellt Ergebnisse einer Studie vor, die sich aus musikpädagogischer Perspektive – vor einem kultursoziologisch-praxeologischen Hintergrund – explorativ mit den sinnlich-körperlichen Erfahrungspotenzialen im Umgang digitaler Technologien auseinandersetzt. Gegenstand der Untersuchung waren künstlerische Performances, in denen die Musik in mittels verschiedener Musikapps live hervorgebracht wird. In der Analyse wurde eine große Anzahl von YouTube-Videoperformances mit einem Fokus auf spezifische Ausprägungen der Spielbewegungen der Finger in Interaktion mit dem Interface untersucht. Im Ergebnis der Analyse wurde zum einen deutlich, dass es sich bei den appmusikalischen Performance-Praktiken nicht um eine partikulare kulturelle Praxis handeln kann, sondern sich vielmehr diverse und zum Teil zueinander konträre kulturell verankerte Wissensfelder zum Vorschein kommen. Zum anderen konnten drei charakteristische Steuerprinzipien und sechs techno-ästhetische Spielweisen herausgearbeitet werden, die als Orientierungsmöglichkeit für einen sich im permanenten Wandel befindlichen Phänomenbereich sensibilisieren können.

Dieser Blogbeitrag ergänzt einen gleichnamigen wissenschaftlichen Buchbeitrag (Krebs, 2023), der im 44. Jahresband des Arbeitskreises Musikpädagogische Forschung erschienen ist. Während der Buchbeitrag neben den Studienergebnissen auch den wissenschaftlichen Hintergrund der Studie näher beschreibt, dient dieser Blogbeitrag der Veranschaulichung der herausgearbeiteten Merkmale anhand von Fallbeispielen aus dem Datenkorpus. Darüber hinaus bietet sich hier die Möglichkeit unterschiedliche Interpretationen der Fallbeispiele sowie didaktische Implikationen im Kommentarbereich zu diskutieren, wozu ich Sie herzlich einladen will.

Hier findet sich der Buchbeitrag (Link): Krebs, M. (2023). Körperlichkeit in digitalen Musikpraktiken mit Apps. Beitrag zur Entwicklung einer technologiesensiblen Theorie musikalisch-ästhetischer Bildung. In M. Göllner, J. Honnens, V. Krupp, L. Oravec, & S. Schmid (Hrsg.), 44. Jahresband des Arbeitskreises Musikpädagogische Forschung (S. 323–345). Waxmann. 

Beitrag zur Entwicklung einer technologiesensiblen Theorie musikalisch-ästhetischer Bildung

Inhaltsverzeichnis (mit Sprungmarken-Links):

  1. Thematischer Einstieg
  2. „Musizieren“ – aus einer veränderten Perspektive betrachtet
  3. Theoretische Verortung und Studiendesign (kurz)
  4. Ergebnisse
  5. Didaktische Perspektiven und Ausblick
  6. Kommentarbereich

 

1. Thematischer Einstieg

Im Bereich der musikpädagogischen Debatte herrscht Uneinigkeit darüber, welche Auswirkungen die Verwendung digitaler Technologien auf den musikalischen Bereich hat. Im Hinblick auf sensomotorisch-taktile Aspekte des Musiklernens mit digitalen Musiktechnologien wird einerseits hervorgehoben, dass aufgrund der Trennung von Klangauslösung und Klangerzeugung eine hohe Variabilität und Anpassbarkeit ermöglicht wird, was interessante und neue künstlerische Ausdrucksformen ermöglicht und individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten berücksichtigen kann (vgl. z. B. Biring 2015; Krebs 2012). Kritiker*innen (z. B. Bilgi, 2020, S. 163; Huovinen & Rautanen, 2020) argumentieren jedoch, dass diese Trennung zu einem Verlust an Unmittelbarkeit führt, insbesondere durch das Fehlen von haptischem Feedback und Körperresonanz, womit eine Entkörperlichung des musikalischen Lernens einhergeht. Vor allem wird von Pädagogen bei der musikalischen Nutzung von Tablet-Apps vielfach eine begrenzte haptische Rückmeldung des Touchscreens bemängelt, sodass die sinnlich-körperlichen Erfahrungsmöglichkeiten im Wesentlichen zweidimensional sind.

// Die Diskussion zeigt, wie stark digitale Entwicklungen das Musikmachen verändern (vgl. Strachan, 2017). Als eine zentrale Eigenschaft der Digitalität wird von Stalder (2019) die Vermischung der Rollenverhältnisse von Menschen und (digitalen) Dingen hervorgehoben. Damit geht eine veränderte Wahrnehmung von Technik einher, die „immer weniger Werkzeug [ist], sondern […] immer mehr zu einer technologischen Umwelt [wird], in der sich die Subjekte bewegen“ (Reckwitz, 2017, S. 237). So tragen vernetzte digitale Technologien zunehmend zur Entwicklung von Selbst- und Weltverhältnissen bei (vgl. Jörissen, 2016). Gleichzeitig sieht sich der Bereich der kreativen und künstlerischen Gestaltung immer stärker mit der Herausforderung konfrontiert, dass mit dem Zugang zu algorithmischen und vernetzten Prozessen manche musikbezogenen Kompetenzen relativiert werden und die verflochtenen Verschränkungen von Menschen und Technologien die Zurechenbarkeit der individuellen Leistung bzw. Autor*innenschaft beeinflusst (Stichwort KI-gestützte Performances). // (vgl. Krebs, 2023, S. 324)

Die Studie, von der im Folgenden die Ergebnisse zusammengefasst sowie einige Fallbeispiele aus dem Korpus der Untersuchung vorgestellt werden, widmet sich exemplarisch diesen verflochtenen Verschränkungen von Menschen und Medientechnologien in musikalisch-ästhetischen Praktiken und arbeitet eine Anzahl kultureller (körperlich verankerter) Wissensformen anhand des Beispiels der informellen Appmusikpraxis heraus (vgl. Krebs, 2019, S. 239 f.). Ziel ist es, exemplarisch anhand der Analyse von interaktiven Musikperformances, die von Musiker*innen auf YouTube veröffentlicht wurden, „neue Einsichten in musikpädagogisch relevante, sozio-technische Entwicklungen und medienspezifische Erfahrungsmöglichkeiten in digitalen Musizierpraxen zu gewinnen“ (Krebs, 2023, S. 324).

Ästhetische Praxis mit digitalen Musiktechnologien birgt ein spezifisches Wissen über unsere aktuellen Erfahrungen in digitalen Kulturen (vgl. Pelleter, 2018, S. 150). Für musikpädagogische Kontexte ist der in dieser Studie dargestellte Ansatz zur Differenzierung von informellen, techno-ästhetischen Musikpraktiken vor allem dann relevant, wenn darin von den Beteiligten eine wertschätzende und reflektierte Auseinandersetzung mit musikkulturellen Differenzen im Klassenzimmer oder im Instrumentalunterricht verfolgt wird. Die Ergebnisse bieten eine Orientierung, differenzierte Bildungsangebote zu entwickeln und technologiebezogene Bildungswege, in denen Lernende diverse künstlerisch-(medien-)ästhetische Anliegen verfolgen, in strukturierter Weise zu begleiten.

2. „Musizieren“ – aus einer veränderten Perspektive betrachtet

Die sinnlich-körperliche Dimension des Musizierens wird vielfach als wesentliche und unverzichtbare Kategorie in Überlegungen zur musikalischer und kulturell-ästhetischer Bildung ausgewiesen: Es sind Bewegungen, die Klänge erzeugen; der Körper ist Medium des musikalischen Erlebens, Verstehens und Lernens (vgl. Richter, 1993, S. 112). Aus einer (etablierten) individualistischen, interaktionistischen Perspektive gilt es daher, Instrumente und musikalische Dinge wie notierte Musik, im Unterricht in einem sinnlichen Wechselspiel „leib-eigen“ (Rüdiger, 2018, S, 140; vgl. Waldenfels, 2010; Gellrich, 1990) zu machen. Die dabei entwickelten musikalischen Körpertechniken, die der mimetischen Verbindung von Mensch und Technologie dienen, sind mit bestimmten Körpersinnen und -wahrnehmungen verknüpft, wobei der gesamte Körper in eine kontinuierliche Schleife aus taktilen und auditiven Rückmeldungen einbezogen wird (vgl. Kim, 2010, S. 107 f.; Gruhn, 2014, S. 59 f.).

// Mit zunehmender Ausdifferenzierung der Lebens- und Arbeitswelten sowie der sozialen, kulturellen und technologischen Kontexte gewinnt einerseits das in spezifischen Handlungsfeldern gebundene implizite Wissen an Bedeutung für pädagogische Betrachtungsweisen. Andererseits gilt es, die Mitwirkung von (vernetzten) Technologien an kreativen und pädagogischen Prozessen in den Blick zu bekommen. Eine individualistische Ausrichtung der Betrachtung macht es hierbei angesichts des in dieser Studie verfolgten Forschungsinteresses unmöglich, das Handeln der untersuchten Musiker*innen als eingebettet in soziale (technologisierte) Kontexte zu verstehen. Damit wird eine (praxeologische) Perspektive nahgelegt, die eine dialektische oder interaktionistische Sichtweise auf Lernen und Bildung ablehnt, die auf einer dualistischen Weltauffassung von Natur und Kultur, Denken und (körperliches) Sein, Erkenntnis und Wirklichkeit, Subjekt und Welt oder auch Identität und Gesellschaft beruht. // (vgl. Krebs, 2023, S. 325)

// In der praxeologischen Perspektive steht nicht mehr das Subjekt, das sich eine Gesangs- oder instrumentale Spiel-Technik aneignet (also motorisch lernt), um bestimmte Vorstellungen und Emotionen durch differenzierte Körperbewegung nach außen bringen (also verklanglichen) zu können, im Fokus der Betrachtung von Musizierprozessen. Vielmehr wird Musizieren (also das Benutzen eines Instruments, einer Technik) als ein Vorgang verstanden, bei dem sich Spielende im fortlaufenden Prozess des Aushandelns und Erforschens der einzigartigen Qualitäten des Mediums, eingebettet in kulturelle Praktiken, körperlich eingewöhnen. Dieses Wissen liegt dabei unter dem Einfluss digitaler Artefakte (wie Smartphones und Apps) weniger in kanonisierter, als vielmehr in hybrider, vielfältiger, flexibler und damit – scheinbar – spontaner Form vor (vgl. Zirfas, 2019, S. 137) und ist als praktisches Gebrauchswissen in Diskursen und Praktiken durch gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und kulturelle Praktiken etc. präfiguriert, ohne es zu determinieren. // (vgl. Krebs, 2023, S. 325)

Aus einer solchen praxeologischen Perspektive auf Musizierprozesse wird entsprechend ein Instrumentenbegriff kritisiert, der die natürliche (physische oder programmierte) Materialbeschaffenheit eines Instruments ins Zentrum stellt, aus der die weiteren Felder der Betrachtung, die möglichen Klangspektren, die Spielweise, die Eignung für die bereits entwickelten Kompositions- und Rezeptionsstrategien und viele andere abgeleitet werden. Vielmehr werden auch die situativ, in spezifischen Praktiken von den Akteur*innen wahrgenommenen Nutzungsmöglichkeiten (affordances) und kulturellen Einschränkungen (constraints) ins Kalkül gezogen. Grundlage ist die Beobachtung, dass ein Musikinstrument je nach musikkulturellem Kontext auf unterschiedliche Weise gespielt wird. „So kann das gleiche Schlaginstrument, das in einer ostasiatischen Singperformance als ein Begleitinstrument mit einer einfachen Technik gespielt werden kann, in einem anderen musikalischen Kontext, wie z. B. in einer rituellen Volksmusik, als ein Hauptinstrument fungieren, das mit feinen Fingerbewegungen und unterschiedlichen Schlagpositionen auf dem Trommelfell virtuos gespielt werden muss“ (Kim, 2010, S. 106). Daran anschließend werden hier normative und ding-orientierte Systematiken zum Instrument vermieden und stattdessen die performativen Handlungsstrategien, d. h. Spielweisen, in den Blick genommen.

// Weiterführend: Die skizzierte theoretische Ausrichtung findet sich auch in einem praxeologisch adaptierten Bildungsbegriff wieder, der Bildungsprozesse im Rahmen von „subjektivierenden Relationierungen“ (Jörissen, 2015, S. 228) und als „Netzwerkarbeit“ (Bellinger et al., 2013, S. 5) beschreibt . Menschen weiten durch die Teilnahme an soziomateriellen Praktiken (die von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren strukturiert sind) ihre Umgangsformen aus und schaffen sich neue Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten. Musizierpraktiken sind Ergebnisse von Aushandlungsprozessen in spezifischen, materiell geprägten Möglichkeitsräumen, die wechselseitig von biografischen Präferenzen und Erfahrungen der menschlichen Akteur*innen sowie von physischen, vom Instrument angebotenen sowie kulturell geprägten Aufforderungsstrukturen bestimmt werden. Dabei spiegeln sie (mitunter divergierende) paradigmatische bzw. normative Weltvorstellungen als Handlungsorientierungen wider. // (Krebs, 2023, S. 326)

Eine zentrale Prämisse zur Betrachtung appmusikalischer Musikpraktiken ist die Bedeutung der Körperlichkeit. Die hier vertretene forschungsleitende These für die Untersuchung der Video-Performances ist, dass das implizite Wissen techno-ästhetischer Praktiken in maßgeblicher Weise in der Körperlichkeit (also in den gestischen Spielbewegungen) zum Ausdruck kommt, die sich im Umgang mit den verwendeten Technologien entwickelt. Die Studie ist damit den heterogenen musikkulturellen Praktiken auf der Spur, die sich im Feld appmusikalischer Praxis in einem informellen Bereich zeigen, und rekonstruiert damit verbundene Möglichkeitsräume für Subjektivierungsprozesse.

3. Theoretische Verortung und Studiendesign

Die Studie basiert auf einem praxeologisch informierten Referenzrahmen, dem ein terminologischer Schwenk von subjektzentrierten (anthropozentrischen), instrumentalen Handlungen hin zu soziokulturellen Musikpraktiken zugrunde liegt. Für einen ausführlicheren Einblick in die zugrundeliegende Methodologie und das Analysevorgehen wird auf den mit diesem Blogbeitrag verknüpften Buchbeitrag (Krebs, 2023) verwiesen.

// Empirische Forschung, die (vor allem informelle) post-digitale Musikpraktiken in Bezug auf die Rolle von (digitalen) Dingen untersucht und daraus musikpädagogische Konsequenzen ableitet, nimmt (auch im deutschsprachigen Raum) zu (vgl. z. B. Godau & Haenisch, 2019; Kattenbeck, 2022; Duve, 2021). Darin werden die praktischen Innovationen des Umgehens und (Zusammen-)Arbeitens mit (digitalen) Musiktechnologien vor dem Hintergrund der Dynamiken des kulturellen Wandels (als ein von Macht geprägter Zusammenhang) in den Fokus genommen, die häufig unter dem Begriff „MusikmachDinge“ (Ismaiel-Wendt, 2016) untersucht werden. Obwohl in den qualitativ-rekonstruktiven Studien zu den Musikpraktiken teilweise spieltechnisch-körperliche Spezifika mitberücksichtigt werden, ist das praktische, handlungsweisende Wissen, das in den performativen, musikhervorbringenden Körperbewegungen dokumentiert ist, bislang nicht in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und systematisch erforscht worden. // (Krebs, 2023, S. 326)

Die vorliegende Studie wendet sich diesem Desiderat zu und legt ihren Schwerpunkt auf die Untersuchung der situativen, performativen Spielbewegungen in Aufführungssituationen im Hinblick auf die Verflechtung von Musizierenden (in sog. Akteur-Netzwerken). Dabei liegt das Augenmerk auf der Interaktion der Musizierenden mit einzelnen Steuerelementen – auch wenn die Spielbewegungen überwiegend eher klein ausfallen. Die dabei beobachtbaren Verknüpfungen zwischen Körper und technischem Medium können durch einen synchronen Vergleich von Videoausschnitten in materiell verankerten und symbolisch interpretierbaren Zusammenhängen analysiert werden (vgl. Alkemeyer et al., 2010).

// Ausgangspunkt für die Analyse dieser mikroprozessualen Handlungsformen war ein Verständnis performativer Spielbewegungen als musikalische Geste, die mehr ist als eine funktionale, intentionale Auslösebewegung und ihr eine Gestalt verleiht, die eine innere Anteilnahme oder musikalische Energetik hinzufügt. So sind Spielbewegungen auf der Ebene des Symbolisch- Kommunikativen anzusiedeln (vgl. Berg, 2018). Darüber hinaus sind sie Ausdruck und Darstellung körperbezogenen praktischen Wissens. Entsprechend bedarf es zu ihrem Erwerb mimetischer Prozesse, in denen Sich-mimetisch-Verhaltende durch Anähnlichung Kompetenzen entwickeln, „Gesten szenisch zu entwerfen, einzusetzen und nach den Umständen zu verändern“ (Wulf, 2011, S. 20). Dabei ist davon auszugehen, dass sich der Gestengebrauch je nach sozialem Feld und Institution erheblich verändert (vgl. Goffman, 1977). // (Krebs, 2023, S. 237)

Als Untersuchungsgegenstand wurden Videoperformances der Social-Media-Plattform YouTube gewählt, die ein breites Spektrum unterschiedlicher Praktiken aufweisen. Diese Performances werden zum einen als kommunikative Settings verstanden, die einen bewusst gestalteten Zusammenhang bilden, der sich an ein – zumindest implizites – Publikum richtet. Zum anderen werden sie als netzwerkspezifische Handlungsprogramme angesehen, bei denen unvorhersehbare Aspekte von den Performenden in Angleichungsprozessen erwartbar gemacht wurden (im Sinne von Routinen), wobei jede Performance einen eigenen, kurzen, oft fragmentarischen Zugriff auf eine soziale Praxis darstellt.

// Der Datenkorpus der Studie bestand – in einem offenen, explorativen Feldzugang (Robson & McCartan, 2002) – aus einer Auswahl von 219 Videoperformances mit Apps, die von Musiker*innen (aus verschiedensten Ländern) in den letzten Jahren auf YouTube veröffentlicht wurden und künstlerische Praktiken dokumentieren. In den zwei- bis zehnminütigen Videos sind Musiker*innen mit diversen musikalischen Expertisen zu sehen, die unterschiedliche Musikgenres bedienen sowie eine große Bandbreite an Apps verwenden. Darin wird jeweils ein bestimmtes Musikstück interpretiert oder eine Improvisation im Sinne einer Aufführung (Performance) musiziert. // (Krebs, 2023, S. 238)

Bei der Fall-Auswahl für diese Studie wurde sich dabei auf Performance-Videos konzentriert, in denen einzelne Spielende mit Apps musizieren. Ensemble-Performances, in denen Spielendende miteinander wechselseitig interagieren, sowie auch die Wechselbeziehungen in hybriden Netzwerken (also die Effekte in Netzwerken von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen) wurden in dieser Studie nur am Rande betrachtet. Dies begründete sich in dem Forschungsinteresse, das auf die Formenvielfalt der gestischen Spielweisen fokussiert war – verstanden als Ausdruck kulturell verflochtener Verschränkungen von menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen.

Auf der Ebene von kurzen Videosequenzen wurden die verschiedenen Aspekte der wechselseitigen Interaktion – einer post-strukturalen Analyseausrichtung folgend – miteinander verglichen, wobei sich fallübergreifend idealtypische gestische Interaktionsmuster herauskristallisiert haben. Nähere Ausführungen zum Analyseverfahren finden sich im Buchbeitrag (vgl. Krebs, 2023, S. 328).

Hinzuzufügen ist, dass an zentraler Stelle der theoretischen und methodologischen Überlegungen die Frage stand, wie in der Analyse vermieden werden kann, dass sich in den Ergebnissen die eigenen Vorurteile (die „Ideologie“ des Forschenden) bzw. die kulturelle Prägung als „Resultat“ reproduziert – besonders wenn der*die Forscher*in daran selbst als Akteur*in beteiligt ist (vgl. Breuer et al., 2019, S. 91 f.; siehe auch Krebs & Bernhofer 2022). Im vorliegenden Fall ist dies die Situierung als männlicher weißer Mitteleuropäer, der an einer Universität seine künstlerische (KA Operngesang) und wissenschaftliche Sozialisation erfahren hat, der sich aus musikpädagogischer Perspektive seit 2009 intensiv mit dem Zusammenhang zwischen Mensch, digitalen Technologien und Musik befasst, als Musikpädagoge und in der Fort‑ und Weiterbildung von Musikschullehrkräften tätig ist und als Musiker in der Tablet-Band DigiEnsemble Berlin spielt.

4. Ergebnisse

Wie gestalten sich die Spielbewegungen als Ausdruck kulturell verflochtener Verschränkungen von Menschen und Medientechnologien in musikalisch-ästhetischen Musizierpraktiken? 

4.1 Digitales Musizierhandeln als (leib-)körperliches Geschehen

Die Analyse zeigt auf, dass es einige appmusikalische Performances gibt, die körperorientierte, instrumentale Praktiken zeigen (siehe weiter unten: auditiv-taktile Spielweise). Darin werden die auf dem Touchscreen abgebildeten Steuerelemente auf eine Art genutzt, die auf eine Materialität verweisen, die sich mit den Beschreibungen eines (leib-)körperlichen, mimetischen Musizierens mit herkömmlichen Musikinstrumenten decken (z. B. vgl. Rüdiger, 2018; Hildebrandt, 2010, S. 20). In solchen Appmusik-Performances weisen die klangauslösenden Spielbewegungen über eine Zweckgerichtetheit hinaus, indem sie an „der Formung und Gestaltung eines spezifischen Klangs [in] Klangqualität und energetische[m] Toninhalt“ (Berg, 2018, S. 161) beteiligt sind.

Die Spielweise, in denen die Finger flexibel gespannt und mit Gewicht und einem Kraftaufwand geführt werden, widerspricht der allgemein verbreiteten Diagnose einer „Entmaterialisierung“ (Weissberg, 2010, S. 176) musikalischer Bereiche durch virtualisierte Interfaces auf Touchscreens, womit die Befürchtung einer körperfernen, kognitiv geleiteten Musikproduktion verbunden wird (vgl. z. B. Aho, 2009). Vielmehr zeigen sich in solchen appmusikalischen Performance-Beispielen somatische, interaktiv-musikalische Spielbewegungen, bei denen sich eine affektive, von Responsivität geprägte Verbindung zu einem dinghaften Musikinstrument beobachten lässt.

–> Die Spielbewegungen wirken instrumental ökonomisch, routiniert und weisen eine zeitlich enge, analoge Verbindung zum damit erzeugten Klang auf.

Solche instrumentalen Spielhandlungen in Appmusik-Performances stellen Beispiele dar, in denen digitale Dinge mit physischen Klangerzeugern assoziiert werden – so die Interpretation – und vergleichbare Wahrnehmung erfordern bzw. ermöglichen, wenn im Kontext künstlerischer Praxis die Möglichkeit zum motorischen Üben genutzt wird. Sie zeigen also, dass das Musizieren mit Apps, bei denen eine solche Spielweise von den Spielenden gefunden wird, auf einer sensomotorischen Ebene als Subjektivierungsangebot wirken kann. Das bedeutet nicht, dass herkömmliche Musikinstrumente dahingehend obsolet sind; vielmehr stellt sich die Frage des konkreten Mehrwerts in der (kulturellen) Situation.

4.2 Automatisierte und algorithmisierte Spielweisen als spezifisch körperlich verankert

Andere Spielweisen repräsentieren digitale Musikpraktiken, in denen Spielende die Steuerelemente als Möglichkeit nutzen, um automatische oder algorithmische Prozesse in Gang zu setzen und zu halten. Die Körperbewegungen sind auch hierbei auf gewisse Weise gestisch mit den Steuerelementen verbunden und spielt Körperlichkeit eine bedeutende Rolle für die charakteristische Ausdrucksgestaltung. Ihre Qualitäten – wie besonders bei Expert*innen deutlich wird – legen dabei nahe, dass die Spielbewegungen, bezogen auf die musikalische Interaktion mit den Steuerelementen, auch bei diesen Spielweisen ein elementares Medium für das Erleben und Verstehen der performativen Hervorbringung der Musik darstellen.

–> Die Spielbewegungen gestalten sich nicht allein als auf die Musik reagierende, sondern auch als die Musik aktiv steuernde Bewegungen – teilweise intentional auf eine antizipierte Klangqualität oder auf den zeitlichen Verlauf gerichtet.

Doch gibt es auch deutliche Unterschiede. Die Körperbewegungen der Spielenden bei solchen Performances sind kaum (oder nur punktuell) auf die Simulation von physikalisch-mechanischen Prozesse im Sinne analogisierter Abläufe wie bei der auditiv-taktilen Spielweise ausgerichtet, sondern vielmehr bezogen auf abstrakte algorithmische Logiken, und resonieren auf rhythmisch-metrische Anker, Intensitätsverläufe etc. Es gibt also auch Performances, die auf der anderen Seite eines Spektrums liegen und sich an andersartige Prinzipien orientieren, wie komplexe Algorithmen und visuelle Strukturen, mit denen auch veränderte Formen der Wahrnehmung einhergehen.

Eine detailierte Rekonstruktion der verschiedenen Aspekte automatisierter und algorithmisierter Spielweisen in appmusikalischen Performances muss an anderer Stelle für appmusikalische Musizierpraktiken dargelegt werden.

 

4.3 Systematiken

In der Betrachtung appmusikalischer Performance-Praktiken wird schnell eine große Vielfalt an unterschiedlichen Spielbewegungen und Steuerprinzipien deutlich, die das Spiel auf spezifische Weise charakterisieren. Als Heuristik wurden Systematisierungen von sechs Spielweisen und drei grundlegenden Steuerprinzipien in appmusikalischen Performances herausgearbeitet. 

Die im Folgenden vorgeschlagenen Einteilungen dienen vor allem als Strukturierungshilfe und stellen kein umfassendes, theoretisch abgesichertes Ergebnis dar. Die aufgeführten Videobeispiele aus dem Datenkorpus dienen der Veranschaulichung der spezifischer Merkmale. Die Systematik kann als erweiterbares und adaptierbares Gerüst angesehen werden, die vor allem Interessierten eine Orientierung geben kann.

Zu beachten ist, dass sich die beschreibende Darstellung auf eine aggregierende Darstellungsweise von Aspekten aus den vielen untersuchten Performances beschränkt. Somit sind nicht alle Merkmale in einzelnen Videos ausgeprägt beobachtbar. Zudem wird in einigen Videos phasenweise zwischen verschiedenen Spielweisen gewechselt (siehe dazu auch nachfolgend).

A) Spielweisen

Die in der Studie herausgearbeitete Systematik von appmusikalischen Spielweisen differenziert die Aktivitäten der menschlichen Akteur*innen in Performances idealtypisch hinsichtlich körpermotorischer Qualitäten. Sie unterscheiden sich vor allem in den Gestenformen, in beschleunigten Spielbewegungen zur Klangsteuerung sowie im affektiven und mimischen Ausdruck, der als Dokumentation einer wahrnehmungsbezogenen Verbindung von Spielbewegung und Klang interpretiert werden kann. // (siehe Krebs, 2023, S. 329-333)

1. auditiv-taktile Spielweise

Die auditiv-taktile Spielweise kennzeichnet sich als ein sensomotorisches, mimetisches Spiel, das in der Führung der Körperbewegungen und im klanggestalterischen Ausdruck stark der instrumentalen Praxis mit herkömmlichen Musikinstrumenten gleicht.

  • Die Spielbewegungen wirken instrumental ökonomisch, routiniert und
  • weisen eine zeitlich enge, analoge Verbindung zum damit erzeugten Klang auf.
  • Die kleinste Gewichtsverlagerung der Finger auf dem Touchscreen kann in einer feinen Klangmodulation resultieren.
  • Die Finger sind flexibel gespannt und werden mit Gewicht und einem Kraftaufwand geführt, ähnlich wie bei einer Klangerzeugung durch ein dinglich-widerständiges, physisches Material.
  • Häufig realisieren Spielende ein breites Spektrum an Spieltechniken, deren Ausdruck eine variantenreiche klangliche Gestaltung hervorbringt.

  • Eine illustrative Stelle im Video „Tu Hi Re“ ist z.B.: 0:30 bis 0:45
  • Eine illustrative Stelle im Video „Remove Silence“ ist z.B.: 1:45 bis 1:53

 

2. regelgeleitete Spielweise

Bei der regelgeleiteten Spielweise kann die Verbindungslogik zwischen Spielbewegung und dem dadurch hervorgerufenen Klang nicht mehr so eindeutig nachvollzogen werden. Algorithmische Prozesse werden in der Interaktion der Spielenden mit den Steuerelementen bedeutsam, wobei die Beziehung zwischen der Steuerung und der daraus resultierenden Klangmodulation nicht proportional sein muss.

  • Die Spielbewegungen gehorchen Regeln, die einer bestimmten Programmlogik folgen. So werden beispielsweise durch längeres Halten einer Taste Arpeggien hörbar oder durch geschwungenes Hin- und Herwischen auf dem Interface ein komplexer Rhythmus erzeugt.
  • Die Verbindung zwischen Bewegung und Klang wirkt (ähnlich wie beim Shakerspiel) zeitlich eng (elastisch verzögert) und
  • deutet in ihrem körperlich energetischen Charakter ebenso auf eine gewisse materielle Dinglichkeit der auf dem Touchscreen dargestellten Steuerelemente hin.
  • Im Vergleich zur auditiv-taktilen Spielweise sind die Handgesten jedoch insgesamt weniger flexibel und präzise.

  • Illustrative Stellen im Video „GLITCH“ sind z.B.: 2:10 bis 3:00 / 3:00 bis 3:30
  • Eine illustrative Stelle im Video „Urban Funk“ ist z.B.: 0:33 bis 0:50

 

3. live-kompositorischen Spielweise

Bei der live-kompositorischen Spielweise lässt sich die Interaktion mit den Steuerelementen auf den ersten Blick eher als eine technische Steuerung – im Sinne einer Dateneingabe, ohne Spur oder gerichteten Tiefeneffekt – charakterisieren.

  • Die Eingabe ist überwiegend asynchron zum Erklingenden,
  • wobei die Programmierung in der Regel durch Grids (Kompositionsraster) strukturiert ist, die eine visuelle Orientierung über die Struktur geben.
  • In vielen Fällen wird die Bedienung von mitwippenden Körperbewegungen der Spielenden überlagert, wodurch letztlich eine affektive Verbindung zwischen der durch den Steuerprozess hervorgerufenen Klangstruktur und dem körperlichen (Mit-)Vollzug vermittelt wird.
  • Die musikalische Körperlichkeit bezieht sich hierbei weniger auf die Interaktion mit dem Interface als vielmehr (reflexiv) auf die aus der Eingabe resultierende, loop-basierte (Beat- )Struktur.
  • (Teilweise werden mit anderen Steuerelementen auch Samples oder direkt hörbare Effekte in Echtzeit gesteuert, indem etwa Lautstärken oder Klangfilter justiert werden. Doch wirken die (rhythmisch) koordinierten Spielbewegungen im Vergleich zur auditivtaktilen Spielweise durch die Form der Steuerelemente (z. B. grafische Drehregler) im Ambitus beeinflusst und in der Expressivität eher limitiert sowie auf die Phrasierung ausgerichtet.)

  • Illustrative Stellen im Video „IJAM LIVE“ sind z.B.: 36:59 bis 37:16 / 11:25 bis 12:05
  • Eine illustrative Stelle im Video „Vangoa“ ist: 3:35 bis 4:30

 

4. DJ-ing-Spielweise

Die DJ-ing-Spielweise kennzeichnet ein Live-Arrangieren, bei dem Spielende einzelne musikalische Patterns (Percussion-Loop, Synthesizer-Riff etc. in verschiedenen Varianten) durch kurzes Antippen auswählen, welche dann automatisiert, synchronisiert zum bereits laufenden Beat erklingen.

  • In diesen loop-basierten Performances, in denen Apps im LaunchPad-Prinzip verwendet werden, wählen Spielende situativ aus einer Anzahl an zuvor vorbereiteten Patterns aus, die auf dem Interface schachbrettförmig repräsentiert sind.
  • Da im Unterschied zur live-kompositorischen Spielweise die Patterns nicht erst mittels des Grids entwickelt werden, sind die Körperbewegungen schwungvoll und weniger im Zusammenhang mit der Eingabe eingeschränkt.
  • Die asynchrone, Pattern-basierte Musikhervorbringung ermöglicht, dass von vielen Spielenden, parallel Samples, kurze Breaks oder situative Effekte als Einwürfe in Echtzeit eingespielt und Filter sowie Lautstärken modifiziert werden können.

  • Eine illustrative Stelle im Video „Novation“ ist z.B.: 3:55 bis 4:29
  • Eine illustrative Stelle im Video „Jamuary“ ist z.B.: 0:22 bis 0:55

 

5. inszenatorische Spielweise

Bei der inszenatorischen Spielweise sind koordinierte Spielbewegungen, die sich zeitlich direkt auf den Klang abstimmen, kaum zu beobachten.

  • Die Interaktion mit dem Interface erfolgt größtenteils asynchron zur hörbaren Klangmodulation und wirkt sehr beschäftigt.
  • Teilweise werden auch subtil-justierende und direkt auslösende Spielbewegungen integriert, die zwar sehr körperlich gespannt und konzentriert, häufig jedoch extrem langsam geführt werden, ohne den atmosphärischen, automatisierten Klangfluss zu unterbrechen.
  • Es zeigt sich eine bruchlose, fließende Quasi-Natürlichkeit in den Bedienbewegungen mit den Steuerelementen, größtenteils ohne Orientierung an einem regelmäßigen Puls und materieller Dinglichkeit – ein technisch-konzeptionelles, experimentell-szenisches Tun.

  • Eine illustrative Stelle im Video „XYNTHESIZR“ ist z.B.: 1:12 bis 1:48
  • Eine illustrative Stelle im Video „Ambient Electro“ ist z.B.: 1:26 bis 1:50

 

6. komplex automatisierte Spielweise

Bei der komplex automatisierten Spielweise stehen vertrackte Automationsketten im Zentrum, während der Zusammenhang zwischen Körperbewegungen und Klangmodulation eine deutlich untergeordnete Rolle für den Musizierprozess spielt.

  • Es dominiert eine asynchrone Interaktionsform, bei der komplizierte Gefüge von klangerzeugenden Einheiten gemanagt werden.
  • Die gelegentliche Interaktion der Spielenden mit Steuerelementen, die unmittelbar den Klang modulieren, ist überwiegend auf die (Nach-)Justierung von Einstellungen des Mischpults, Effektkalibrierungen und auf die (De-)Aktivierung von einzelnen Stimmen gerichtet.
  • Im Fokus der Performance liegt der experimentelle Umgang mit algorithmischen Strukturen, wobei nicht selten synchronisierte Visualisierungen als zusätzliche Ausdrucksebene zum Beat oder Klangverlauf eingebunden werden, was wiederum als eine alternative Form der Inszenierung von Körperlichkeit wirken kann.

  • Eine illustrative Stelle im Video „AUM Jam“ ist z.B.: 4:38 bis 5:00
  • Eine illustrative Stelle im Video „Minimal Music“ ist z.B.: 1:31 bis 1:55

 

B) Steuerprinzipien in Performances

Eine weitere Möglichkeit, die verflochtenen Verschränkungen von Menschen und Medientechnologien in musikalisch-ästhetischen Musizierpraktiken zu betrachten, ist es, das Handeln eines Steuerelements zu betrachten. Gefragt wird nach dem Interaktions- bzw. Antwortverhalten eines Steuerelements, welches situativ als ein Wirkmechanismus aus der Beobachtung rekonstruiert werden kann. Technik ist unter dieser Perspektive zwar ein Handlungsträger (ein Akteur mit Einfluss), jedoch nur in Verbindung mit menschlichen Wesen. Es wurden drei grundlegende Prinzipien in der Zusammenschaue der untersuchten Performances rekonstruiert. // (siehe Krebs, 2023, S. 334-336)

1. Direkte Steuerung

Bei der einfachen Variante dieses Steuerprinzips löst die Interaktion der Spielenden mit Steuerelementen ohne Verzögerung eine bestimmte Klangstruktur aus. So wird z. B. kurzes Tippen zum direkten Auslösen eines einzelnen Samples oder zum Starten eines automatischen Ablaufs verwendet. Diese direkte Steuerung lässt sich in unterschiedlichem Ausmaß bei allen sechs Performance-Spielweisen beobachten.

Bei manchen Performances zeigen sich aber auch Verwendungsweisen der Steuerelemente, bei denen Klänge oder Klangeffekte über das Auslösen hinaus im gehaltenen Kontakt in Echtzeit moduliert werden (z. B. indem Töne mit Vibrato gespielt werden). Von dieser sensibilisierten Variante der direkten Steuerung wird besonders bei der auditiv-taktilen Spielweise (siehe oben) Gebrauch gemacht.

–> Im Zusammenspiel mit dem Steuerelement kann eine symbiotisch wirkende, unmittelbare sensomotorische Verbindung der Spielenden zum Klang beobachtet werden. Beim Gestalten z. B. einer Melodie werden die Länge und Intensität der Berührungen des Touchscreens von Ton zu Ton variiert, was dem Spiel eine lebendige Note verleiht. Die Spielbewegungen haben hierbei Schwung und Gewicht; auch das Halten eines Klangs wird kontinuierlich von Spielenden dynamisch gestaltet.

Bei der einfachen Variante der direkten Steuerung werden die Steuerelemente dagegen eher gleichförmig starr berührt, ohne dass eine flexible Spannung der Spielfinger wahrnehmbar ist. Die Beziehung von Spielbewegung und Klangstruktur ist in diesen Fällen auf das reine Aktivieren limitiert. Rhythmisch wiederholtes Tippen auf den Touchscreen kann jedoch auch zu einer sensibilisierten und kraftvollen Steuerung werden, die sich auf den zeitlichen Verlauf der Musik richtet.

2. Algorithmische Steuerung

Bei der algorithmischen Steuerung werden die Klangstrukturen in den Performances – im Unterschied zur direkten Steuerung – wahrnehmbar indirekt ausgelöst, d. h. die Interaktionen mit solchen Steuerelementen werden durch Programmabläufe prozessiert (also regelbasiert abgewandelt, berechnet, verarbeitet), bevor die Klangergebnisse vom technischen System hervorgebracht werden. Dabei bleibt eine enge körperliche Verbindung zum musikalischen (Klangerzeugungs-)Prozess bestehen, da die algorithmischen Abläufe hierbei in Echtzeit von Spielenden nachjustiert werden können.

Da die Zeitverzögerung bei diesem Steuerprinzip eher latent (kurz) ist, ist in vielen Performances eine materielle Widerständigkeit (Dinglichkeit) beobachtbar. Die aufgewendete Kraft der Spielenden scheint jedoch – im Vergleich zur direkten Steuerung – weniger auf die sensitive Berührung der Steuerelemente als vielmehr auf den kinästhetischen Sinn der Spielbewegung gerichtet zu sein.

–> Die algorithmische Steuerung lässt sich dabei insbesondere im Rahmen der regelgeleiteten (siehe Beispielvideo hier drüber) und der DJ-ing-Spielweise (siehe oben) ausmachen. Bei der übersichtlichen Variante dieses Prinzips werden von Spielenden nur wenige Parameter der Klangstruktur manipuliert. Dies nutzen viele Spielende als eine spontane Möglichkeit zum Improvisieren.

Steuerelemente, die nach diesem Prinzip agieren, können darüber hinaus teilweise als adaptiv beobachtet werden. Hierbei werden die im Spiel erzeugten, unregelmäßigen Steuerdaten an eine Voreinstellung (z. B. eine bestimmte Tempovorgabe beim Rhythmus-Spiel) in Echtzeit angepasst (Live-Quantisierung). Umgekehrt ist aber auch beobachtbar, wie sich einige Spielende animiert zeigen, d. h. unbewusst am adaptierten Klang-Output koordinieren, indem sie ihre Spielbewegung anpassen. Die Form der wechselseitigen Aushandlung, als eine auf körperlich-materieller Ebene stattfinde Ko-Produktion mit einem algorithmischen Maschinen-Gegenüber, scheint eine zentrale Sinnebene der musikalischen Handlung zu sein, die sich z. B. im Fall des Rhythmus-Spiels auf die zeitliche Strukturgestaltung richtet.

3. Asynchrone Steuerung

Bei der asynchronen Steuerung werden der Klang bzw. die Modulation zeitlich versetzt zur Interaktion mit dem Steuerelement wiedergegeben, wodurch die performative Kopplung zwischen den Spielenden und den Steuerelementen zunächst getrennt scheint.

Besonders verbreitet ist bei asynchron gesteuerten, appmusikalischen Performances, dass im Rahmen eines festgelegten zeitlichen Abschnitts (eines Patterns) im Loop-Modus agiert wird. Neue Eingaben in ein Grid-Raster werden zeitlich versetzt zur Interface-Interaktion im jeweils nächsten Zyklus eines Loops verklanglicht. Dieses Prinzip findet sich besonders bei der live-kompositorischen Spielweise (siehe oben) wieder – als ein loop-basiertes Live-Komponieren oder pattern-basiertes Live-Arrangieren.

–> Dieses zyklisch organisierte, somatisch asynchrone Steuerprinzip verbindet sich mit einer medialen Materialität der Steuerelemente, die einerseits der Interaktion mit einem Planungstool ähnlich ist (im illustrierenden Video z.B. bei der Stelle 11:25 bis 12:05). Die Loop-Funktionalität unterstützt hierbei ein iterativ und rekursiv angelegtes Gestalten, bei der die eigene Gestaltung beständig ästhetisch evaluiert werden kann.

Andererseits wirken die Spielenden trotz der Asynchronizität zwischen Bedieninteraktion und Klangstruktur körperlich-energetisch in die hervorgebrachte Musik involviert, was anhand der Kontinuität der Interaktionsbewegungen und der Art der Aufmerksamkeit für den Prozess sowie häufig auch durch zum Beat koordinierte Bewegungen beobachtbar wird.

4. Weiterführende Beobachtungen

Die untersuchten Fallbeispiele verdeutlichen darüber hinaus, dass das jeweilige Steuerprinzip, das sich in einer Performance oder in einer Phase der Performance interpretieren lässt, nicht fix für ein bestimmtes digitales Steuerelement einer App definiert ist. Bei gleicher physischer Beschaffenheit des Touchscreens werden den darauf abgebildeten Steuerelementen von den Spielenden verschiedene mediale Materialitäten zugewiesen: Selbst dasselbe Steuerelement einer App kann innerhalb einer Performance unterschiedliche dinghafte Eigenschaften erhalten.

Der Technikdeterminismus erfährt so seine Relativierung. Die sich widersprechenden Nutzungsweisen können in Hinblick auf ein verallgemeinertes Symmetrieprinzip (im Anschluss an Latour) als kulturabhängige Zuschreibungen verstanden werden.

Das Fallbeispiel von ajp (siehe Video über diesem Absatz) verdeutlicht exemplarisch, dass digitale Technologien im Performancekontext nicht nach ihrer (vermeintlich objektiven) Oberflächenstruktur hinsichtlich ihrer Affordanz systematisiert werden können. Knapp skizziert, lässt sich dies in diesem Video in der Verwendung der Steuerelemente am rechten Bildschirmrand beobachten: Während zu Beginn der Performance das Verhältnis als direkte Steuerung (z. B. bei 0:04 bis 0:39) beobachtet werden kann, stellt es sich im weiteren Verlauf als eine algorithmische Steuerung (z. B. bei 0:52 bis 1:24) dar. Hierbei zeigt sich in der Qualität der Handgestik ein Wechsel im Interaktionsverhalten mit den Steuerelemente sowie auch auf der Ebene der Spielweise (von auditiv-taktiler Spielweise hin zu einer algorithmisch-regelgeleiteten Spielweise).

Eine generelle Zuweisung eines technischen Interaktions- bzw. Antwortverhaltens eines Steuerelements greift zu kurz und sind immer nur in Bezug auf die situative Verwobenheit des Spielenden mit den Dingen/Umwelt zu treffen. Es handelt sich bei den Steuerprinzipien also um die situative Interpretation der Spielenden, die Zuordnung von Bedeutung sowie deren Einbettung in den soziokulturellen Kontext. Der analytische Aspekt der Steuerprinzipien muss also immer im Rahmen spezifischer kultureller Praktiken definiert werden. (Einen interessanten Vorschlag zur Analyse medial-symbolischer Hybride macht Bettinger (2020), der die Affordanz mit der spezifischen digitalen Medialität der technischen Konstellation theoretisiert, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann).

5. Didaktische Perspektiven und Ausblick

Die Ergebnisse legen nahe, dass die sinnliche Körperlichkeit in den appmusikalischen Performancepraktiken eine zentrale Sinnebene darstellt, wobei es sich beim Musizieren mit Apps nicht um eine partikuläre kulturelle Praxis handeln kann. Vielmehr wurden hinsichtlich körpermotorischer Qualitäten diverse sinnlich-körperlich verankerte Ausdrucksformen herausgearbeitet, die sich in verschiedenen Spielweisen widerspiegeln.

Die nähere Charakterisierung der Spielweisen verweist auf unterschiedliche (implizite) Wissensfelder, die sich in Form von kulturell (habituell) verankerten Spielgesten und anhand biografischer Verweise rekonstruiert werden konnten (vgl. Krebs, 2023, S. 337-339).

// Diese sind jedoch in den Performances nicht fest an bestimmte Apps oder Steuerelemente gekoppelt – im Sinne überindividuell objektivierter Bedienweisen. Vielmehr zeigt der Fallvergleich, dass auch dieselben Elemente einer bestimmten App unterschiedlich genutzt werden. Dabei treten die Spielweisen in einigen Performances nicht in Reinformen auf, sondern können phasenweise auch wechseln. Darüber hinaus deuten sich auch Interferenzmuster an, was die Performances als Überlagerung verschiedener „kultureller Bruchstücke“ (Prantl, 2020) charakterisiert und (individuelle) Umnutzungen von Steuerelementen bestimmter Apps, die vom typischen Gebrauch abweichen, erklären kann. Die Interfaces mit den darauf verfügbaren algorithmischen Steuerelementen können vor diesem Hintergrund als ein Terrain der Überlagerung verschiedener (musikkultureller) Praktiken betrachtet werden. Alles liegt nah beieinander – was die Vermischung von kulturellen Praktiken begünstigt. Der Touchscreen stellt sich also nicht als zweidimensional heraus, sondern zeigt sich als multidimensionaler, sinnlich-körperlicher Handlungsraum, wodurch das Beobachtungsfeld wiederum weit aufgespannt wird und neue Leerstellen für die Forschung offenkundig werden. // (siehe Krebs, 2023, S. 340)

Was bedeuten die Ergebnisse aus der Analyse künstlerischer, appmusikalischer Performancepraktiken für die Gestaltung von Möglichkeitsräumen musikalisch-ästhetischer Bildung?

Die Entfaltung von didaktischen Modellen, die aktuelle Erfahrungen in digitalen Kulturen integrieren, in dem sie die Entwicklung eines techno-ästhetischen Spielgefühls unterstützen oder das in den verschiedenen künstlerischen, medienästhetischen Praktiken eingeschlossene Wissen in ihrer Bandbreite an spezifischen Ausdruckformen zugänglich machen, steht noch aus.

Für eine post-digitale Musizierdidaktik, die z. B. kulturpädagogische Bildungsziele – und damit eine wertschätzende, reflektierte Auseinandersetzung mit musikkulturellen Differenzen im Klassenzimmer oder im Instrumentalunterricht – einschließt, lässt sich jedoch bereits folgende Implikation ableiten: Werden Musikinstrumente nicht allein als „Wandler, die Bewegungsmuster in Klangmuster umwandeln“ (Baily, 2008, S. 123) definiert, sondern vielmehr als Objekte, denen kultureller Eigensinn zuerkannt wird, kann mit Apps eine ganze Bandbreite hybrider (techno-ästhetischer) Verkörperungsbeziehungen künstlerisch erforscht und entwickelt werden.

6. Was meinen Sie?

In diesem Beitrag wurden Untersuchungsergebnisse zu musikpädagogischen Kernfragen möglicher Bildungspotenziale bzw. Lerneinschränkungen im Gebrauch digitaler Technologien am Beispiel informeller appmusikalischer YouTube-Performances dargestellt sowie Systematisierungen von Steuerprinzipien und Spielweisen vorgeschlagen. Die Studie versteht sich als ein erster Schritt der Auseinandersetzung mit den Spezifiken digitaler Musikpraktiken und damit in Zusammenhang stehenden Bildungspotenzialen. Nutzen Sie gern die Möglichkeit über den Kommentarbereich Fragen zu stellen und/oder auch eigene Erfahrungen zu skizzieren.


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